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Zwischen Hochaktivität und Erschöpfung: Eine Frau im Spannungsfeld von ADHS, Mutterrolle und Selbstanspruch

Einblicke in einen komplexen Fall aus dem psychotherapeutischen Alltag

In diesem Beitrag werfen wir einen Blick auf eine Frau Mitte dreißig – wir nennen sie Claudia – die sich im Spannungsfeld zwischen beruflichem Engagement, intensiver Elternrolle und einem tiefen inneren Drang nach Kontrolle und Funktionieren bewegt. Der folgende Fall verdeutlicht typische mikrotherapeutische Prozesse, die besonders für Ausbildung und Supervision relevant sind.


🧩 Die Ausgangssituation

Claudia ist Mutter zweier kleiner Kinder, arbeitet in Teilzeit in einem sozialen Beruf mit Schichtdiensten und ist darüber hinaus in mehreren ehrenamtlichen Funktionen aktiv. Sie lebt mit ihrem Partner im ländlichen Raum und hat sich durch Eigenrecherche und Selbstbeobachtung intensiv mit dem Thema ADHS im Erwachsenenalter auseinandergesetzt. Die diagnostische Odyssee über Kassenstellen war jedoch frustrierend und emotional ernüchternd: mangelnde Gesprächszeit, computergestützte Tests ohne persönlichen Kontakt – „Da war so ein Computertest, und dann habe ich halbe Stunde mit einer Studentin geredet...“, erzählt sie enttäuscht.


⚖️ Zwischen Selbstdiagnose und Zweifel

Claudias Selbstausdruck ist von hoher Reflexivität geprägt, gepaart mit einem intensiven Bedürfnis nach Erklärbarkeit ihres Erlebens. Die Kombination aus Hyperaktivität, innerem Antrieb, impulsivem Verhalten gegenüber den Kindern und dem Eindruck, „ständig funktionieren zu müssen“, hat sie selbst auf eine mögliche ADHS-Störung hingeführt. Gleichzeitig berichtet sie von starker Reizbarkeit, dem Gefühl, unter ständiger innerer Spannung zu stehen, und der Angst vor depressiven Einbrüchen, sollte sie zur Ruhe kommen.

„Wenn ich jetzt daheim sitzen würde, würde ich sicher Depressionen kriegen. Schon eine Stunde daheim sitzen, macht mir Unwohlsein.“

🧠 Psychodynamik und familiäre Prägungen

Aus dem Gespräch werden frühkindliche Beziehungsmuster und Prägungen deutlich: Eine überbehütende Mutter, ein zurückhaltender Vater, kontrollierende Erziehung und ein Aufwachsen mit dem Gefühl, „nicht zu genügen“ oder „zu viel zu sein“. Die heutige Selbstkritik spiegelt sich auch in ihrer Beziehung zu ihrem emotional eher distanzierten Partner wider. Sie fühlt sich oft für dessen Befindlichkeiten mitverantwortlich und beschreibt ein permanentes inneres Monitoring.

„Ich sage immer, das ist wie bei Twilight. Ich kann wirklich ihn nicht lesen.“

🔄 Wiederholungszwang als Lebensstrategie

Claudias Coping besteht in Daueraktivität: soziale Projekte, Ehrenämter, kreative Tätigkeiten, Selbstoptimierung. „Ich würde mich gern fünfmal teilen“, sagt sie – ein Hinweis auf den enormen inneren Druck, der sie antreibt und gleichzeitig belastet. Ihre emotionale Reizbarkeit gegenüber den Kindern wird von ihr als Kontrollverlust und Versagen erlebt – sie kennt sich selbst nicht wieder.

„Früher haben mich alle gefragt, wie ich das mache, dass ich so ruhig bin… Jetzt bin ich nur mehr am Auszucken.“

🧭 Therapieziele und Diagnostik

Claudia wünscht sich emotionale Entlastung, einen besseren Umgang mit ihrer Impulsivität, sowie eine fundierte Diagnostik, die ihr nicht nur ein Etikett, sondern Verständnis und Orientierung gibt. In der Therapie könnten folgende Ziele fokussiert werden:

  • Differenzierung von ADHS-Symptomatik und stressbedingter Reaktion

  • Aufbau emotionaler Selbstregulation

  • Förderung realistischer Selbstansprüche

  • Reaktivierung innerer Ruheinseln und Selbstmitgefühl


📘 Für die Ausbildung: Was lässt sich lernen?

Der Fall illustriert eindrücklich:

  • Ambivalenz zwischen Funktionieren und innerer Erschöpfung

  • Selbstdiagnostik vs. professionelle Abklärung

  • Über-Ich-Konflikte bei engagierten, leistungsstarken Klient:innen

  • Mikroprozesse in der elterlichen Selbstkritik und Scham

  • Therapeutische Haltung: Validierung, behutsame Konfrontation, Ressourcenaktivierung

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