🌀 Was bedeutet Trauma wirklich? – Ein Blick hinter das Wort „Wunde“
- Thomas Laggner
- 30. März
- 5 Min. Lesezeit
Wenn wir im Alltag das Wort „Trauma“ hören, denken viele sofort an Krieg, schwere Unfälle oder Missbrauch. Doch was steckt wirklich dahinter? Das Wort selbst gibt uns bereits einen wertvollen Hinweis: „Trauma“ kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet wörtlich „Wunde“. Es geht also um Verletzungen – allerdings nicht unbedingt sichtbar auf der Haut, sondern tief in der Psyche.

Was genau ist ein Trauma?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) beschreibt Trauma als
„ein belastendes Ereignis oder eine Situation außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmaßes (kurz- oder langanhaltend), die bei fast jedem eine tiefe Verstörung hervorrufen würde.“
Das bedeutet: Ein Trauma entsteht durch ein Geschehen, das unsere seelische Integrität so massiv überfordert, dass unser inneres Gleichgewicht zusammenbricht. Solche Situationen kommen meist plötzlich und unerwartet – das Gefühl der Macht- und Hilflosigkeit ist überwältigend. Angst, Schmerz und ein tiefer innerer Rückzug sind die Folge.
Kein Trauma ist gleich Stress
Oft wird Trauma mit Stress verwechselt. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied – den der Handlungsoption. In einer Stresssituation kann unser System noch aktiv reagieren: „Kampf oder Flucht“ lautet hier die Devise (fight or flight). Im Trauma hingegen greift der Notfallmechanismus unserer Psyche: Wir erstarren oder spalten uns innerlich ab – „freeze or fragment“.
Wie der Psychotraumatologe Franz Ruppert beschreibt:
„Die Stresssituation führt zu einer Mobilisierung von Energie, der Trauma-Notfallmechanismus zu einer Demobilisierung, zur Energieabschaltung und zur Betäubung von Empfindungen.“
Die psychischen Kanäle schließen sich – wir erleben eine innere Abkapselung, als würden wir „verschwinden“, um das Unerträgliche zu überleben.
Verschiedene Arten von Trauma
Die Trauma-Forscherin Leonore Terr unterscheidet zwei Haupttypen:
Typ I Trauma: ein einzelnes, außergewöhnlich belastendes Ereignis (z. B. ein Unfall, eine Naturkatastrophe, eine plötzliche Gewalterfahrung).
Typ II Trauma: wiederholte Traumatisierungen über längere Zeit, besonders in der Kindheit.
Typ II Traumata – auch sequentielle oder Entwicklungstraumata genannt – hinterlassen besonders tiefe Spuren. Sie stören das natürliche Bindungssystem des Menschen, da sie oft in den sensibelsten Phasen der kindlichen Entwicklung stattfinden. Die Seele hat noch kein Schutzschild – alles geht „direkt rein“.
Die Folgen von Entwicklungstraumata
Kinder und Jugendliche, die Typ II-Traumata erleben, zeigen häufig:
Dissoziation (Abspaltung von Gefühlen oder Körperwahrnehmungen)
Depersonalisation (sich selbst fremd sein)
anhaltende Wut oder Aggression
Selbstverletzendes Verhalten oder Suizidgedanken
Emotionale Taubheit – eine Form des inneren Rückzugs, um nicht (mehr) fühlen zu müssen.
Die amerikanische Psychiaterin Judith Herman beschreibt diese tiefen Auswirkungen unter dem Begriff der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Hierbei geht es nicht nur um einzelne Symptome, sondern um eine weitreichende Beeinträchtigung der gesamten Lebenswelt.
Die Kinder zeigen:
gestörte Emotionsregulation
impulsives oder selbstgefährdendes Verhalten
verminderte Stresstoleranz
massive Bindungsschwierigkeiten
Der Weg in ein stabiles, vertrauensvolles Leben wird dadurch enorm erschwert – aber: Heilung ist möglich. Vor allem durch einfühlsame, sichere Beziehungen und professionelle therapeutische Begleitung.
💔 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) bei Kindern und Jugendlichen
Wie Traumata kindliches Verhalten beeinflussen
Kinder und Jugendliche, die traumatisierende Erlebnisse durchleben mussten, zeigen oft Verhaltensweisen, die uns auf den ersten Blick vielleicht irritieren, überfordern oder sogar provozieren. Doch hinter auffälligem Verhalten steckt nicht selten eine tiefe seelische Wunde.
Das Buch „Traumapädagogik – Grundlagen für den pädagogischen Alltag“ (herausgegeben vom ÖTPZ) liefert eine einfühlsame und praxisnahe Zusammenfassung für Fachkräfte, die tagtäglich mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen arbeiten – sei es in Wohngruppen, Schulen oder der aufsuchenden Hilfe.
Symptome einer PTBS bei Kindern und Jugendlichen
Die von mir begleiteten Jugendlichen zeigten viele typische Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS). Diese lassen sich in fünf zentrale Bereiche gliedern:
A. Wiedererleben des Traumas (Intrusionen)
Plötzlich aufkommende Bilder, Gedanken oder Szenen (sog. Flashbacks)
Albträume
Starker Stress bei Jahrestagen oder Erinnerungsreizen
Das Gefühl, mitten im Ereignis zu stecken, obwohl es vorbei ist
B. Vermeidung und Rückzug
Kinder vermeiden gezielt Gedanken, Gespräche, Orte oder Menschen, die sie an das Trauma erinnern
Sie zeigen emotionalen Rückzug oder Teilnahmslosigkeit
Oft berichten sie von Erinnerungslücken oder einer „Löschung“ wichtiger Teile des Erlebens
Gefühle von Entfremdung und eingeschränkter Zukunftshoffnung sind häufig
C. Zwanghaftes Wiederaufsuchen der gefährlichen Situation
Ein scheinbares Paradox: Manche Kinder suchen unbewusst wieder jene Situationen auf, die dem Trauma ähneln – als würde ihre Seele versuchen, die Kontrolle über das Unkontrollierbare zurückzuerlangen.
D. Erhöhte Erregbarkeit (Hyperarousal)
Übermäßige Schreckhaftigkeit, Reizbarkeit, plötzliche Wutanfälle
Konzentrationsstörungen
Ein- und Durchschlafprobleme
Permanente Unruhe und ständiger „innerer Alarmzustand“
E. Erschütterung auf der Bedürfnissebene
Hilflosigkeit statt bloßer Angst
Zerbrochenes Vertrauen in sich selbst und andere
Gefühle von Schuld, Scham, Wut, Ärger oder tiefer Trauer
Emotionale Taubheit (Numbing): Bindungen werden vermieden, Gefühle betäubt, Alltag wird mechanisch bewältigt
Formen des Wiedererlebens: Intrusion – Trigger – Flashback
🔁 Intrusionen
Das sind Erinnerungen, die sich „aufdrängen“ – wie ein innerer Film, der plötzlich losläuft und sich nicht stoppen lässt. Ausgelöst werden sie durch sogenannte Trigger.
🧠 Trigger
Trigger sind Auslöser (z. B. Gerüche, Geräusche, bestimmte Sätze oder Situationen), die mit dem Trauma assoziiert sind. Sie können auf allen Sinnesebenen wirken – und leider überall im Alltag auftreten.
⚡ Flashbacks
In einem Flashback überlagert das Traumaerlebnis das Hier und Jetzt völlig. Das Kind fühlt sich, als würde es das Ereignis gerade wieder durchleben – die Gegenwart tritt in den Hintergrund.
Dissoziation: Wenn sich das Ich aufspaltet
Eine häufige Überlebensstrategie bei Traumatisierungen ist Dissoziation. Dabei trennt sich das Bewusstsein von bestimmten Gefühlen, Erinnerungen oder der aktuellen Realität. Man „funktioniert“, ohne wirklich anwesend zu sein.
Formen dissoziativen Erlebens:
Alltagsdissoziation: Tranceartige Zustände, Tagträumen, „nicht ganz da sein“
Amnesie: Erinnerungslücken im Alltag oder in der Biografie
Depersonalisierung & Derealisierung: Das Selbst oder die Umgebung wirken fremd
Fugue: Plötzliches, unbewusstes Entfernen vom Ort ohne Erinnerung
DIS (Dissoziative Identitätsstörung): Verschiedene Persönlichkeitsanteile übernehmen abwechselnd die Kontrolle
Dissoziation schützt – aber hindert auch daran, heilende Erfahrungen zu machen. Deshalb ist es so wichtig, sie im pädagogischen Alltag zu erkennen und sanft zu unterbrechen.
Biologische Grundlagen: Warum Erregung nicht einfach verschwindet
Die erhöhte Ausschüttung des Stresshormons Cortisol führt zur Übererregung – einem Dauerzustand, in dem Kinder ständig „auf Habacht“ sind. Diese Kinder können kaum entspannen, zeigen aggressive Ausbrüche oder Konzentrationsprobleme – was im Schul- oder Gruppenalltag schnell zu Konflikten führt.
Komplexe PTBS: Wenn das Trauma zum Lebensmuster wird
Die Psychiaterin Judith Herman beschreibt die komplexe PTBS als eine tiefgreifende Störung, die entsteht, wenn das Trauma über lange Zeit wirkt – oft verbunden mit Beziehungen, in denen Kontrolle, Gewalt oder Vernachlässigung eine Rolle spielen.
Typische Auswirkungen:
Chronische Emotionsprobleme: z. B. Suizidgedanken, Selbstverletzung, emotionale Abflachung
Verändertes Selbstbild: Scham, Schuld, Gefühl der Wertlosigkeit
Bindungsschwierigkeiten: Rückzug, Isolation, übergroßes Misstrauen
Verzerrte Täterwahrnehmung: Idealisierung oder Identifikation mit dem Täter
Verlust von Hoffnung: Gefühl, nie „normal“ zu werden
Ein Plädoyer für Verständnis und traumasensible Haltung
Was Kinder in der Tiefe ihrer Seele erleben, bleibt uns oft verborgen. Doch mit dem Wissen um die Symptome und Mechanismen einer PTBS können wir ihr Verhalten neu lesen – nicht als Provokation, sondern als stillen Schrei nach Halt, Sicherheit und Resonanz.
🕊️ Traumasensible Pädagogik beginnt dort, wo wir aufhören, Verhalten zu bewerten – und beginnen, zu verstehen.
Abschließender Gedanke
Trauma ist mehr als eine psychologische Kategorie. Es ist eine stille Wunde, die oft niemand sieht – aber die das ganze Leben beeinflussen kann. Es braucht Mut, sich dem zu stellen, und es braucht Räume, in denen diese Wunden gesehen, gehalten und versorgt werden können.
Als personzentrierter Berater ist es mir ein Herzensanliegen, genau solche Räume anzubieten – mit Achtung, Präsenz und tiefem Respekt vor der inneren Welt jedes Menschen.
🕊️ Jede Wunde erzählt eine Geschichte. Jede Geschichte verdient es, gehört zu werden.