Krise als Chance
- Thomas Laggner
- 30. März
- 3 Min. Lesezeit
Personzentrierte Krisenintervention nach Carl Rogers
In der psychotherapeutischen und beratenden Praxis begegnen uns Krisen regelmäßig. Doch was genau verstehen wir eigentlich unter einer „Krise“ im Sinne des Personzentrierten Ansatzes, und wie können wir als Berater:innen und Therapeut:innen kompetent und wirksam unterstützen?
Was ist eine Krise aus personzentrierter Sicht?
Carl Rogers beschreibt eine Krise als Zustand extremer Inkongruenz¹ zwischen dem realen und dem idealen Selbst² – also einem inneren Konflikt, bei dem das Selbstbild einer Person fundamental von den tatsächlichen Erfahrungen abweicht. Solche Spannungen können beispielsweise durch Verlustereignisse, Trennungen, Krankheiten, Unfälle oder unerwartete Veränderungen entstehen. Krisen können dabei äußerst unterschiedlich erlebt werden, sind jedoch immer mit starken Gefühlen wie Angst, Verzweiflung, Hilflosigkeit oder Wut verbunden.
Krise – Katastrophe oder Chance?
Eine Krise zeichnet sich dadurch aus, dass sie sowohl zu einem Zusammenbruch als auch zu einem bedeutenden Entwicklungsschritt führen kann. Rogers sieht in jeder Krise eine Chance zur Selbstaktualisierung³: Die Möglichkeit, sich selbst authentischer, freier und kongruenter zu erleben. Gerade in diesen Momenten können Menschen ein neues Verständnis ihrer selbst gewinnen und sich aus alten, möglicherweise ungesunden Mustern lösen.

Die Rolle von Therapeut:innen und Berater:innen in der Krise
Die Aufgabe von Therapeut:innen und Berater:innen liegt darin, in Krisenzeiten eine sichere, wertschätzende und empathische Beziehung anzubieten. Dabei ist es entscheidend, keine vorschnellen Lösungen oder fertigen Ratschläge anzubieten, sondern den Klient:innen Raum zu geben, ihre Gefühle – auch unangenehme oder sozial weniger akzeptierte Gefühle – offen auszudrücken und zu verarbeiten.
Ein zentraler Aspekt der Krisenintervention ist der achtsame Umgang mit suizidalen Gedanken, die oft als belastend und tabuisiert empfunden werden. Diese Gedanken offen anzusprechen, schafft Vertrauen, entlastet und hilft, den Druck zu reduzieren, der sich innerlich aufbauen kann.
Das richtige Setting in der Krisenintervention
Ein wesentlicher Unterschied zwischen einer üblichen therapeutischen Sitzung und einer Krisenintervention liegt in der unmittelbaren Verfügbarkeit der Unterstützung. In Krisensituationen benötigen Klient:innen oftmals sofortige und unmittelbare Hilfe. Therapeut:innen lernen in der Ausbildung daher, flexibel und sensibel zu reagieren, rasche Unterstützung anzubieten und in akuten Situationen auch außerhalb regulärer Sitzungen erreichbar zu sein.
Die Krisensituation erfordert zudem, Klient:innen empathisch und wertschätzend zu begegnen, um eine Atmosphäre der Sicherheit und des Vertrauens herzustellen. Praktische Gesten, wie das Angebot einer Tasse Tee, einer kleinen Pause oder einer vorsichtigen Berührung, können hierbei zusätzlich unterstützend wirken und das Gefühl von Geborgenheit vermitteln.
Personzentrierte Haltung in der Ausbildung
Angehende Therapeut:innen und Berater:innen werden in ihrer Ausbildung intensiv darin geschult, die personzentrierte Haltung⁴ authentisch einzunehmen. Wesentlich ist dabei die Balance zwischen empathischem Einfühlen in die Not des Klienten und dem Widerstehen, Verantwortung oder Lösungen zu übernehmen. Die Ausbildung fokussiert besonders auf das Entwickeln einer inneren Haltung, die Klient:innen in ihrer Selbstheilung unterstützt und zugleich ihre Autonomie wahrt.
Fazit: Krisen als wertvolle Entwicklungschance
In ihrem grundlegenden Werk „KRISE“ zeigt Ingeborg Rosenmayr eindrucksvoll, dass Krisen nicht nur Leid, sondern auch ein enormes Potenzial zur persönlichen Weiterentwicklung enthalten. Indem wir unsere Klient:innen auf Augenhöhe begleiten, mit Einfühlungsvermögen und Vertrauen auf ihre Selbstheilungskräfte, eröffnen wir ihnen den Weg, Krisen als Wendepunkte hin zu größerer Authentizität und innerer Freiheit zu nutzen.
Die personzentrierte Krisenintervention nach Carl Rogers ist damit weit mehr als bloße Krisenhilfe – sie ist eine nachhaltige Unterstützung auf dem Weg zu umfassendem persönlichem Wachstum und tiefgehender Selbstaktualisierung.
¹ Inkongruenz: Diskrepanz oder Unvereinbarkeit zwischen Erfahrungen und Selbstkonzept einer Person.
² Ideales Selbst: Die Vorstellungen, Werte und Eigenschaften, die eine Person idealerweise besitzen möchte.
³ Selbstaktualisierung: Die inhärente Tendenz eines Menschen, sich zu entfalten, Potenziale auszuschöpfen und authentischer zu leben.
⁴ Personzentrierte Haltung: Grundhaltung im therapeutischen Prozess, gekennzeichnet durch Empathie, Echtheit (Kongruenz) und bedingungslose positive Wertschätzung gegenüber dem Klienten.