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Wenn Misstrauen auf Erschöpfung trifft

Ein Fall aus der Paarberatung

Ein Lehr- und Reflexionstext für die Berater:innenausbildung


Einleitung: Warum dieser Fall so lehrreich ist

In der beraterischen Praxis begegnen uns Paare, die sich nicht mehr verstehen, obwohl sie sich lieben.Paare, die jahrelang miteinander kämpfen, ohne zu erkennen, dass nicht der andere das Problem ist –sondern das Muster, das sie gemeinsam erzeugen.

Der folgende Fall ist vollständig anonymisiert.Die Inhalte stammen aus zwei Erstgesprächen und eignen sich hervorragend,um zentrale beraterische Kompetenzen zu erklären:

  • Umgang mit Misstrauen und Verlustangst

  • Umgang mit emotionaler Erschöpfung

  • Eskalationsdynamiken

  • Resonanzarbeit

  • Bindungsorientierte Gesprächsführung

  • Vergebungsarbeit in hochgradig belasteten Beziehungen


1. Ausgangssituation

Ein Paar, beide Anfang/Mitte 30, zwei Kinder, seit über fünf Jahren zusammen.

Die Beziehung befindet sich im emotionalen Ausnahmezustand:

  • Keine körperliche Nähe mehr

  • Häufige Eskalationen

  • Psychosomatische Belastungen bei der Partnerin

  • Massive Verlust- und Eifersuchtsreaktionen beim Partner

  • Gefühl von „WG statt Beziehung“

  • Dauerhafte innere Müdigkeit auf beiden Seiten


Beide kommen mit dem Wunsch, die Dynamik zu verstehen –aber mit extrem unterschiedlichen Beziehungs-Sprachen.


2. Was in den ersten Sitzungen sichtbar wurde

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2.1. Die emotionale Sprache der Partnerin

Die Partnerin schildert:

  • das Gefühl, nicht gehört und nicht verstanden zu werden

  • permanente Abwertungen ihrer Wahrnehmung

  • ein Beziehungsklima, das sie körperlich erschöpft

  • Rückzug als Selbstschutz

  • eine tiefe Kränkung durch jahrelanges Misstrauen


Sie sucht Resonanz – nicht Lösungen.Sie braucht emotionale Antwort – nicht Analyse.

Ihr Kernthema:„Ich muss kämpfen, um überhaupt zu existieren.“


2.2. Die logische Sprache des Partners

Der Partner:

  • argumentiert logisch statt zu fühlen

  • reagiert auf Unsicherheit mit Kontrolle

  • hat Verlustangst, ohne sie benennen zu können

  • verwechselt Nähe mit Gefahr

  • schützt sich vor Scham durch Abwertung

  • glaubt, Missverständnisse seien „normale Diskussionen“


Sein Kernthema:„Ich genüge nicht und habe Angst, ersetzt zu werden.“


2.3. Der gemeinsame Teufelskreis

Der Zyklus lässt sich systemisch so beschreiben:

  1. Sie sehnt sich nach emotionaler Antwort →

  2. Er fühlt sich überfordert und reagiert kritisch →

  3. Sie fühlt sich abgewertet und zieht sich zurück →

  4. Er spürt Entzug von Nähe, bekommt Verlustangst →

  5. Er kontrolliert, interpretiert, verdächtigt →

  6. Sie wird erschöpft, verletzt, psychosomatisch →

  7. Beide fühlen sich unverstanden →

  8. Der Kreislauf beginnt von vorne.


Dieser Zyklus ist beziehungslogisch, nicht schuldlogisch.


3. Systemische Einordnung

Der Fall illustriert vier typische Muster:

1. Pursuer–Withdrawer-Dynamik (EFT)

Sie drängt auf Verbindung –er zieht sich in Logik, Argumentation und Kontrolle zurück.

2. Bindungsorientierte Reaktionen

Er zeigt unsichere Bindung (ängstlich),sie zeigt ambivalente Bindung (Überlastung vs. Nähewunsch).

3. Eskalationsspirale nach Watzlawick

Inhalts- vs. Beziehungsebene kollidieren.Er hört Inhalte,sie sendet Beziehungssignale.

4. Narzisstische Kränkung vs. emotionale Überflutung

Er erlebt Kränkung → Abwertung.Sie erlebt Überflutung → Rückzug.

Beide Muster sind verständlich, nicht pathologisch.


4. Die zentralen Verletzungen – und warum sie so schwer wirken


4.1. Ihre Verletzungen

  • Unglauben: „Egal was ich sage – du glaubst mir nicht.“

  • Fehlende Resonanz: „Ich rede ins Leere.“

  • Fehlende Sicherheit: „Ich bin ständig unter Verdacht.“

  • Persönliche Abwertung: „Ich werde als Frau kategorisiert.“

  • Körperliche Erschöpfung: Zyklusverschiebungen, Ausschläge


4.2. Seine Verletzungen

  • Gefühl des Nicht-Genügens

  • Schamreaktion auf Kritik

  • Überforderung mit emotionaler Komplexität

  • soziale Abwertung durch Außenkommentare

  • Angst vor Trennung und Alleinsein


Diese Kränkungen sind so schwer,weil sie nicht über Fehler sprechen, sondern über Identität.


5. Was Heilung in solchen Fällen bedeutet

Heilung beginnt nicht dort,wo der Konflikt endet,sondern dort,wo Verstehen beginnt.

Die Schritte:

1. Validierung

Nicht erklären.Nicht rechtfertigen.Nur sehen.

2. Verantwortungsübernahme

Nicht als Schuld.Sondern als Einfluss.

3. Veränderung des Umgangs

Nicht perfekt.Sondern wiederholbar.

4. Entlastung

Loslassen alter Zuschreibungen.Neues Erleben ermöglichen.


6. Konkrete Interventionen, die in diesem Fall wirksam waren

1. Verlangsamung (De-Eskalation)

Einführung klarer Pausen.„Wir halten jetzt kurz an.“

2. Gefühls-Spiegelung

„Ich höre, dass es dich verletzt.“

„Ich höre, dass du Angst hast.“

3. Mini-Resonanzschleifen

20 Sekunden sprechen→ 1 Satz spiegeln→ Rollenwechsel

4. Benennen unsichtbarer Anteile

„Das ist Verlustangst.“

„Das ist Selbstschutz.“

5. Metaphernarbeit

Die „Glut“-Metapher war für beide enorm wirksam.

6. Vergebungsritual

„Ich sehe, dass du verletzt wurdest.Ich übernehme Verantwortung für meinen Anteil.“→ 5 Sekunden Stille→ Antwortsatz


7. Didaktischer Nutzen für die Berater:innenausbildung

Dieser Fall zeigt exemplarisch:

  • Paare reden selten über das, worüber sie streiten.

  • Gefühle und Trigger sind oft asymmetrisch verteilt.

  • Misstrauen ist immer ein Ausdruck von Angst, nie von Bosheit.

  • Rückzug ist immer ein Schutz, nie ein Angriff.

  • Ohne Verlangsamung gibt es keine Verbindung.

  • Ohne Verbindung gibt es keine Lösung.


Er zeigt auch: Ein Berater/eine Beraterin muss im Chaos führen können, ohne Partei zu ergreifen –und dennoch klar benennen, was geschieht.


8. Fazit

Es ist nicht wichtig, wer recht hat. Es ist wichtig, wer wen erreicht.

Heilung geschieht dort, wo zwei Menschen bereit sind, ihre Schutzstrategien zu sehenund ein Stück weit loszulassen.

In diesem Fall gibt es eine reale Chance –weil beide trotz Erschöpfung noch spürbar verbunden sind.

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