Wenn Misstrauen auf Erschöpfung trifft
- Thomas Laggner

- vor 11 Stunden
- 3 Min. Lesezeit
Ein Fall aus der Paarberatung
Ein Lehr- und Reflexionstext für die Berater:innenausbildung
Einleitung: Warum dieser Fall so lehrreich ist
In der beraterischen Praxis begegnen uns Paare, die sich nicht mehr verstehen, obwohl sie sich lieben.Paare, die jahrelang miteinander kämpfen, ohne zu erkennen, dass nicht der andere das Problem ist –sondern das Muster, das sie gemeinsam erzeugen.
Der folgende Fall ist vollständig anonymisiert.Die Inhalte stammen aus zwei Erstgesprächen und eignen sich hervorragend,um zentrale beraterische Kompetenzen zu erklären:
Umgang mit Misstrauen und Verlustangst
Umgang mit emotionaler Erschöpfung
Eskalationsdynamiken
Resonanzarbeit
Bindungsorientierte Gesprächsführung
Vergebungsarbeit in hochgradig belasteten Beziehungen
1. Ausgangssituation
Ein Paar, beide Anfang/Mitte 30, zwei Kinder, seit über fünf Jahren zusammen.
Die Beziehung befindet sich im emotionalen Ausnahmezustand:
Keine körperliche Nähe mehr
Häufige Eskalationen
Psychosomatische Belastungen bei der Partnerin
Massive Verlust- und Eifersuchtsreaktionen beim Partner
Gefühl von „WG statt Beziehung“
Dauerhafte innere Müdigkeit auf beiden Seiten
Beide kommen mit dem Wunsch, die Dynamik zu verstehen –aber mit extrem unterschiedlichen Beziehungs-Sprachen.
2. Was in den ersten Sitzungen sichtbar wurde

2.1. Die emotionale Sprache der Partnerin
Die Partnerin schildert:
das Gefühl, nicht gehört und nicht verstanden zu werden
permanente Abwertungen ihrer Wahrnehmung
ein Beziehungsklima, das sie körperlich erschöpft
Rückzug als Selbstschutz
eine tiefe Kränkung durch jahrelanges Misstrauen
Sie sucht Resonanz – nicht Lösungen.Sie braucht emotionale Antwort – nicht Analyse.
Ihr Kernthema:„Ich muss kämpfen, um überhaupt zu existieren.“
2.2. Die logische Sprache des Partners
Der Partner:
argumentiert logisch statt zu fühlen
reagiert auf Unsicherheit mit Kontrolle
hat Verlustangst, ohne sie benennen zu können
schützt sich vor Scham durch Abwertung
glaubt, Missverständnisse seien „normale Diskussionen“
Sein Kernthema:„Ich genüge nicht und habe Angst, ersetzt zu werden.“
2.3. Der gemeinsame Teufelskreis
Der Zyklus lässt sich systemisch so beschreiben:
Sie sehnt sich nach emotionaler Antwort →
Er fühlt sich überfordert und reagiert kritisch →
Sie fühlt sich abgewertet und zieht sich zurück →
Er spürt Entzug von Nähe, bekommt Verlustangst →
Er kontrolliert, interpretiert, verdächtigt →
Sie wird erschöpft, verletzt, psychosomatisch →
Beide fühlen sich unverstanden →
Der Kreislauf beginnt von vorne.
Dieser Zyklus ist beziehungslogisch, nicht schuldlogisch.
3. Systemische Einordnung
Der Fall illustriert vier typische Muster:
1. Pursuer–Withdrawer-Dynamik (EFT)
Sie drängt auf Verbindung –er zieht sich in Logik, Argumentation und Kontrolle zurück.
2. Bindungsorientierte Reaktionen
Er zeigt unsichere Bindung (ängstlich),sie zeigt ambivalente Bindung (Überlastung vs. Nähewunsch).
3. Eskalationsspirale nach Watzlawick
Inhalts- vs. Beziehungsebene kollidieren.Er hört Inhalte,sie sendet Beziehungssignale.
4. Narzisstische Kränkung vs. emotionale Überflutung
Er erlebt Kränkung → Abwertung.Sie erlebt Überflutung → Rückzug.
Beide Muster sind verständlich, nicht pathologisch.
4. Die zentralen Verletzungen – und warum sie so schwer wirken
4.1. Ihre Verletzungen
Unglauben: „Egal was ich sage – du glaubst mir nicht.“
Fehlende Resonanz: „Ich rede ins Leere.“
Fehlende Sicherheit: „Ich bin ständig unter Verdacht.“
Persönliche Abwertung: „Ich werde als Frau kategorisiert.“
Körperliche Erschöpfung: Zyklusverschiebungen, Ausschläge
4.2. Seine Verletzungen
Gefühl des Nicht-Genügens
Schamreaktion auf Kritik
Überforderung mit emotionaler Komplexität
soziale Abwertung durch Außenkommentare
Angst vor Trennung und Alleinsein
Diese Kränkungen sind so schwer,weil sie nicht über Fehler sprechen, sondern über Identität.
5. Was Heilung in solchen Fällen bedeutet
Heilung beginnt nicht dort,wo der Konflikt endet,sondern dort,wo Verstehen beginnt.
Die Schritte:
1. Validierung
Nicht erklären.Nicht rechtfertigen.Nur sehen.
2. Verantwortungsübernahme
Nicht als Schuld.Sondern als Einfluss.
3. Veränderung des Umgangs
Nicht perfekt.Sondern wiederholbar.
4. Entlastung
Loslassen alter Zuschreibungen.Neues Erleben ermöglichen.
6. Konkrete Interventionen, die in diesem Fall wirksam waren
1. Verlangsamung (De-Eskalation)
Einführung klarer Pausen.„Wir halten jetzt kurz an.“
2. Gefühls-Spiegelung
„Ich höre, dass es dich verletzt.“
„Ich höre, dass du Angst hast.“
3. Mini-Resonanzschleifen
20 Sekunden sprechen→ 1 Satz spiegeln→ Rollenwechsel
4. Benennen unsichtbarer Anteile
„Das ist Verlustangst.“
„Das ist Selbstschutz.“
5. Metaphernarbeit
Die „Glut“-Metapher war für beide enorm wirksam.
6. Vergebungsritual
„Ich sehe, dass du verletzt wurdest.Ich übernehme Verantwortung für meinen Anteil.“→ 5 Sekunden Stille→ Antwortsatz
7. Didaktischer Nutzen für die Berater:innenausbildung
Dieser Fall zeigt exemplarisch:
Paare reden selten über das, worüber sie streiten.
Gefühle und Trigger sind oft asymmetrisch verteilt.
Misstrauen ist immer ein Ausdruck von Angst, nie von Bosheit.
Rückzug ist immer ein Schutz, nie ein Angriff.
Ohne Verlangsamung gibt es keine Verbindung.
Ohne Verbindung gibt es keine Lösung.
Er zeigt auch: Ein Berater/eine Beraterin muss im Chaos führen können, ohne Partei zu ergreifen –und dennoch klar benennen, was geschieht.
8. Fazit
Es ist nicht wichtig, wer recht hat. Es ist wichtig, wer wen erreicht.
Heilung geschieht dort, wo zwei Menschen bereit sind, ihre Schutzstrategien zu sehenund ein Stück weit loszulassen.
In diesem Fall gibt es eine reale Chance –weil beide trotz Erschöpfung noch spürbar verbunden sind.



