Die Suche veredelt die Antwort
- Thomas Laggner

- 26. Okt.
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 27. Okt.
Warum in der Beratung die Suche die Antwort veredelt
Die Haltung des Nicht-Wissens
„Lebe jetzt die Fragen.“ – Rainer Maria Rilke

Manche Sätze sind wie leise Türen, durch die man in ein tieferes Verstehen tritt.Rilkes Satz ist eine solche Schwelle.Er erinnert uns daran, dass Wachstum nicht im Wissen beginnt,sondern im ehrlichen Nicht-Wissen.
In der Ausbildung zur personzentrierten Lebensberatung ist diese Haltung ein Prüfstein:Wie bleibe ich präsent, wenn ich nicht weiß?Wie halte ich Raum, wenn keine Lösung sichtbar ist?
1 | Die Suche als Haltung
Antworten sind Momentaufnahmen – die Suche ist Beziehung.Personzentrierte Arbeit misst sich nicht an der Zahl der Ratschläge,sondern an der Qualität des Kontakts.
Carl Rogers verstand Psychotherapie nie als medizinischen Vorgang,sondern als Begegnung zwischen Personen – als Prozess, in demSelbst-Verstehen und Beziehung einander hervorbringen.Sein Ansatz war humanwissenschaftlich, nicht naturwissenschaftlich:Er sah den Menschen als Subjekt, nicht als Objekt.
Darauf baut Peter F. Schmid (2004) mit seinem Konzept des„Kreativen Nicht-Wissens“ auf:eine erkenntnistheoretische Bescheidenheit, die Beziehung ermöglicht.Sie anerkennt, dass jedes Wissen über den Menschennur vorläufig und relational ist.
„Wir sollen nicht die Krankheit kennen,sondern den Menschen, der die Krankheit hat.“
Das Nicht-Wissen ist kein Mangel,sondern Ausdruck von Achtung:
Es schützt vor vorschneller Definition,
es bewahrt den Anderen in seiner Unverfügbarkeit,
es macht Beratung zu einer schöpferischen Begegnung.
Wer nicht alles wissen muss, kann wirklich zuhören.Wer sich nicht auf eine Diagnose fixiert,kann dem Lebendigen Raum geben.
2 | Fünf Grundsätze der suchenden Haltung
1. Demut – Wissen, dass wir nicht alles wissen.
Demut schützt vor subtiler Macht.Sie hält den Raum offen, in dem der Klient sich selbst entdecken darf.
2. Differenzierung – Beobachtung, Deutung, Bewertung trennen.
Klarheit entsteht, wenn wir Ebenen sichtbar machen, ohne sie zu vermischen.
3. Tempoachtsamkeit – Reifen statt treiben.
Nicht jede Stille ist Leere – manche ist die Wurzel einer reifenden Antwort.
4. Würde – Keine Person wird Objekt einer Theorie.
Theorien sind Werkzeuge, keine Wahrheiten.
5. Einladung – Optionen öffnen statt reduzieren.
„Du entscheidest, was für dich Sinn ergibt.“So wird Beziehung zur gemeinsamen Forschung.
3 | Mikro-Kompetenzen für die Praxis
Präzises Spiegeln – Wortnah. Tonnah. Sinnnah.
„Du versuchst, beides zu halten – Ruhe und Veränderung.“
Vertiefendes Fragen
„Was zeigt sich jenseits deiner ersten Erwartung?“„Was braucht Schutz, während wir weiterforschen?“
Focusing-Fenster
„Wo im Körper bemerkst du das gerade?“Wir warten auf den Felt Sense – und auf den Moment der Stimmigkeit.
Zirkuläre Perspektiven
„Wie sähe das aus den Augen deiner zukünftigen Version?“
Narrative Re-AutorenschaftDas Problem ist nicht die Person, sondern ihr Muster.
Ethik-Check
„Wem dient diese Antwort – wem könnte sie schaden?“
4 | Übungsformate für Ausbildungsgruppen
A) 7-Minuten-Suchdialog (Dyade)
Kein Rat, kein Trost, kein „Ich an deiner Stelle“.Nur Spiegeln, Verlangsamen, Re-Fragen.
B) Rilke-Leselupen (Triade)
„Lebe jetzt die Fragen.“ – eine Person liest,eine benennt ein Ungelöstes,eine fragt nur zur Klärung.Abschluss: „Was hat die Frage vergrößert?“
C) Körperkompass (Kleingruppe)
Innenwahrnehmung – ein Wort für den Körperzustand – eine kleine Bewegung.Lernfokus: Somatische Stimmigkeit.
5 | Sitzungsrituale – Beginn und Abschluss
Start in 90 Sekunden
„Womit kommen wir?“
„Woran erkennst du, dass es sich lohnt?“
„Was soll heute unberührt bleiben?“
Abschluss in 90 Sekunden
„Was hat sich geklärt?“
„Welche Frage nimmst du mit?“
„Was ist der nächste 1 %-Schritt?“
6 | Fallvignette – Maria, 42
Thema: Erschöpfung und Entscheidungsdruck.Reflex: „Ich muss sofort die richtige Lösung finden.“Intervention: Verlangsamung, Felt-Sense-Check.Schlüsselfrage: „Was bleibt wahr, wenn du das Gegenteil annimmst?“Shift: Druck → Neugier.Outcome: Eine „Testwoche“ statt Endentscheidung.Lernpunkt: Suchhaltung ermöglicht reversible Experimente.
7 | Sprachkarten
„Lass uns das noch roher stehen lassen.“
„Was in dir will nicht überredet, nur gesehen werden?“
„Welche Annahme erzeugt gerade Eile?“
„Wenn 1 % genug wäre – was wäre 1 %?“
8 | Häufige Fallen – und Auswege
9 | Evaluationsraster
0 – 3 Punkte: Raumhalten · Präzision · Fragen · Autonomie · 1 %-ExperimenteDann: eine Stärke, ein Wunsch.
10 | Mini-Handout für Klient:innen
„Wir lösen nicht dich.Wir lösen ein Muster.Wir prüfen, was dir dient.Wir lassen Raum für Reife.Wir finden Antworten, indem wir gut fragen.“
11 | Rilke und das Kreative Nicht-Wissen
Rilkes Satz ist kein Romantizismus, sondern eine erkenntnistheoretische Haltung.Geduld schützt vor Scheinlösungen – Fragen schaffen Zukunft.
Peter F. Schmid nannte dies das kreative Nicht-Wissen:eine schöpferische Form von Ungewissheit,die dem Menschen erlaubt, sich selbst zu entdecken,statt beschrieben zu werden.
„Personzentrierte Psychotherapie ist kein Wissens-,sondern ein Begegnungsprojekt.“ (Schmid, 2004)
Kreatives Nicht-Wissen bedeutet:
Wissen als Prozess, nicht als Besitz.
Erkenntnis als Beziehung.
Theorie als dienende Sprache, nicht als Deutungshoheit.
Damit wird Rilkes poetischer Imperativ – „Lebe jetzt die Fragen“ –zur praktischen Ethik des Begleitens.
12 | Transfer in Beratung, Führung, Pädagogik
Suchende Zonen sind nicht nur therapeutisch bedeutsam.Teams, Schulen und Organisationen brauchen sie ebenso:
Retros ohne Schuldzuweisung: Lernen statt Rechtfertigen.
Entscheidungen als Hypothesen: „Wir prüfen in zwei Wochen.“
Führung als Resonanzraum: Zuhören vor Entscheiden.
13 | Material für Ausbildung & Supervision
Flipchart-Vorlagen „Frage-Kompass“, „1 %-Leiter“
Arbeitsblatt Evaluationsraster 0 – 3
Karteikarten 20 Sprachimpulse für Suchdialoge
Lesetipp: Peter F. Schmid (2004) Kreatives Nicht-Wissenin: Gesprächspsychotherapie und Personzentrierte Beratung, 3 (4)
Lesetipp: R. M. Rilke Briefe an einen jungen Dichter
Zum Nachdenken
Vielleicht ist Reife die Fähigkeit,Antworten nicht mehr zu erzwingen.
Im kreativen Nicht-Wissen beginnt Beziehung –und mit ihr das, was keine Technik je leisten kann: Vertrauen.
Kontakt & Begleitung
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