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Wenn Anpassung zur Falle wird

Aktualisiert: 27. Okt.

Eine Gruppe, ein Gespräch, ein Erwachen


Einleitung: Ein Abend, der vieles sichtbar machte

An jenem Abend, als sich unsere kleine Gruppe zusammensetzte, ahnte niemand, dass wir Zeugen eines seltenen Moments werden würden: der Verwandlung von jahrelanger Anpassung in Selbst-Erkenntnis.Eine Teilnehmerin – nennen wir sie Anna – erzählte von einer Geschichte, die so viele Menschen in großen Organisationen betrifft, aber kaum jemand laut ausspricht: der stille Verlust des Selbstwerts durch Daueranpassung und Machtlosigkeit.

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Anna arbeitet seit über zwei Jahrzehnten in einer öffentlichen Bildungseinrichtung.Ihr Bericht über 14 Versetzungen, wechselnde Vorgesetzte, unklare Strukturen und körperliche Erschöpfung war kein Einzelfall – er war ein Spiegel unserer Arbeitswelt.Doch was als „Fallbesprechung“ begann, wurde zu einer kollektiven Selbsterkenntnis über Würde, Grenzen und Selbstbehauptung im System.


1. Der Prozess: Vom Erzählen zum Erkennen

Was die Gruppe von Beginn an berührte, war Annas innere Zerrissenheit:Sie liebt ihre Arbeit, sie ist hochkompetent, sie trägt Verantwortung – und doch ist sie seit Jahren Objekt fremder Entscheidungen.

Das Gespräch nahm rasch eine Dynamik an, die an eine moderne Sokratische Dialogführung erinnerte:Statt Ratschläge zu geben, stellten wir Fragen, die Annas Selbstbild herausforderten:

  • „Warum hältst du das für normal?“

  • „Wem nützt deine Angepasstheit?“

  • „Was verlierst du jedes Mal, wenn du ‚Ohren anlegst‘?“

Es entstand eine Atmosphäre, in der Wahrheit wichtiger wurde als Harmonie.Das war der Wendepunkt.

Anna begann zu erkennen, dass ihre größte Stärke – Flexibilität, Loyalität, Belastbarkeit – gleichzeitig ihre größte Falle war.Sie hatte über Jahre gelernt, sich „praktisch“ zu machen, weil sie dadurch Konflikte vermied.Doch diese Haltung machte sie unsichtbar – und im wörtlichen Sinn krank.


2. Der Moment der Klarheit

Einer der intensivsten Momente war, als Anna sagte:

„Ich will einfach nur arbeiten dürfen – in Ruhe.“

Ein einfacher Satz.Aber dahinter lag ein ganzes Leben an Selbstverleugnung.

Wir hielten inne.Und dann fiel der entscheidende Satz aus der Gruppe:

„Du bist keine Extrawurst – du bist das Hauptgericht. Ohne dich läuft der Laden nicht.“

Diese humorvolle, aber tief wahre Intervention öffnete etwas.Zum ersten Mal sprach Anna nicht mehr als Opfer der Umstände, sondern als jemand, der einen Wert kennt, der verhandelt werden muss.


3. Erkenntnisse für die Gruppe

Anna war Auslöser – doch alle im Raum fanden sich wieder.Die Gespräche über ihre Situation führten uns zu drei zentralen Erkenntnissen über Selbstwert im beruflichen Kontext:

a) Angepasstheit ist kein Zeichen von Stärke, sondern von Angst.

Wir lernen früh, dass Harmonie wichtiger sei als Klarheit.Doch wer sich dauernd „praktisch“ macht, macht sich selbst klein.Friedemann Schulz von Thun würde sagen: Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit hat das Bedürfnis nach Selbstachtung verschluckt.

b) Stabilität ist kein Luxus, sondern ein psychologisches Grundbedürfnis.

Menschen brauchen eine verlässliche Struktur, um kreativ und leistungsfähig zu sein.Ein Arbeitsplatz ohne Kontinuität ist wie ein Haus ohne Fundament – man kann darin leben, aber nie ankommen.

c) Selbstwert entsteht, wenn innere und äußere Haltung übereinstimmen.

Anna fand im Gespräch eine neue Sprache:Nicht mehr „Ich möchte“, sondern „Ich will“.Nicht mehr „Ich hoffe, man sieht mich“, sondern „Ich weiß, was ich wert bin.“Diese sprachliche Wende ist mehr als Semantik – sie ist ein Akt der Selbstermächtigung.


4. Die Gruppe als Resonanzraum

Die Dynamik im Raum war fast therapeutisch.Während Anna sprach, spürten viele: Auch ich kenne diese Ohnmacht.Diese Resonanz war kein Mitleid, sondern Mitgefühl – im ursprünglichen Sinne des Wortes: Mit-Fühlen, um daraus Mit-Erkennen zu machen.

Wir erlebten, was der Psychologe Irvin Yalom beschreibt:

„Gruppen sind Miniaturen des Lebens. Alles, was dort geschieht, ist auch draußen wahr.“

So wurde aus einem Einzelfall ein kollektiver Spiegel:Wie oft verraten wir unsere Bedürfnisse, um nicht unbequem zu wirken?Wie oft opfern wir unsere Wahrheit der Zugehörigkeit?


5. Vom Opfer zur Gestalterin

Im Verlauf des Gesprächs wurde klar:Annas nächste Herausforderung – ein bevorstehendes Mitarbeitergespräch – war keine Personalangelegenheit, sondern ein Wendepunkt ihrer Biografie.

Am Ende formulierte sie klar:

„Ich will das so nicht mehr. Ich will Stabilität. Und ich weiß, was ich dafür leiste.“

In diesem Satz liegt der Keim einer neuen beruflichen Identität:nicht mehr die „Verfügbare“, sondern die „Verlässliche“.Nicht mehr das Opfer der Strukturen, sondern die Frau, die die Strukturen an ihre Grenzen erinnert.


6. Die universelle Lehre

Was diese Gruppe gelernt hat, gilt weit über diese Institution hinaus:

Selbstwert ist kein Gefühl, sondern eine Haltung.

Er entsteht nicht aus Applaus, sondern aus dem Mut, den eigenen Wert auch dann zu behaupten, wenn das System ihn nicht anerkennt.Er entsteht, wenn wir uns selbst die Erlaubnis geben, Grenzen zu ziehen, bevor der Körper es für uns tut.Er entsteht, wenn wir den Satz „Ich will“ wieder aussprechen, ohne Schuldgefühle.


7. Schlussgedanke: Der stille Triumph

Anna ging an diesem Abend nicht mit einer Lösung, sondern mit einer neuen inneren Haltung nach Hause.Aber genau darin liegt der eigentliche Sieg.Sie hatte begonnen, sich nicht mehr zu rechtfertigen, sondern zu positionieren.

Und die Gruppe verstand:In einer Welt, die ständige Anpassung verlangt, ist


Selbstbehauptung der wahre Akt von Intelligenz.


Vertiefungsfragen

  1. Wann in deinem Berufsleben hast du dich „praktisch“ gemacht – und was hat es dich gekostet?

  2. Wo verwechselst du Loyalität mit Selbstaufgabe?

  3. Was wäre ein Satz, der deinen inneren Selbstwert im Arbeitskontext ausdrückt?

  4. Welche Strukturen in deinem Umfeld stabilisieren dich – und welche destabilisieren dich dauerhaft?

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