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„Ich hasse Stress – und mach ihn mir jeden Tag selbst“

Eine junge Mutter zwischen Trauma, Kontrolle und Selbstzweifel

Zwischen Perfektionismus und Überforderung

Manchmal begegnet man einer Lebensgeschichte, die still erschüttert. In der folgenden Fallanalyse geht es um Lena (29), alleinerziehende Mutter von zwei Kindern, die sich nach einer traumatisierenden Beziehung mühsam in ein selbstbestimmtes Leben zurückarbeitet. Der Preis: täglicher Stress, ein unstillbares Bedürfnis nach Kontrolle und schmerzhafte Selbstzweifel – vor allem in ihrer Rolle als Mutter.

„Ich hasse Stress. Aber ich mach ihn mir jeden Tag selbst.“

Der Auslöser: Wenn Ordnung Sicherheit verspricht

Lena meldet sich zur Beratung, weil sie merkt, dass sie sich selbst blockiert: Sie lernt nicht für Prüfungen, obwohl sie es sich vornimmt. Stattdessen putzt sie, räumt auf, organisiert den Tag minutiös – bis sie ausbrennt.

„Ich weiß, ich sollte lernen. Aber dann mach ich den Geschirrspüler, putze das Bad, obwohl ich mich dafür hasse.“

In ihrer Geschichte erkennen wir ein klassisches Trauma-Muster: Kontrolle als Kompensation für frühere Ohnmacht. Sie lebt unter dem ständigen Druck, alles perfekt zu machen – aus Angst, dass sonst wieder etwas „passiert“.


Beziehungshintergrund: Gewalt, Abwertung und Schuld

Lenas Ex-Partner war gewalttätig – physisch und emotional. Trotzdem kämpfte sie jahrelang um die Beziehung, hielt an der Fassade einer „heilen Familie“ fest.

„Ich hab beim Heiraten gewusst, dass das nicht hält. Aber ich bin trotzdem hingegangen.“

Besonders bedrückend ist Lenas Beschreibung der Schuld, die sie sich selbst gibt:

„Ich kritisiere meine Tochter – obwohl ich selbst jahrelang nur kritisiert wurde.“

Sie spürt: Der alte Schmerz lebt weiter – nicht nur in ihr, sondern auch im Verhalten ihrer Kinder.


Emotionale Ambivalenz: Zwischen Wut und Vergebung

Lena schwankt zwischen Verachtung und Mitleid für ihren Ex. Sie versucht, friedlich zu kommunizieren – für die Kinder. Aber sie leidet, weil sie ihn nicht einfach „abhaken“ kann.

„Ich will eigentlich gleichgültig sein – aber manchmal hasse ich ihn so sehr.“

Diese Ambivalenz ist typisch für Bindungstrauma: Der Schmerz bleibt, weil die Quelle des Schmerzes gleichzeitig Bezugspunkt bleibt. Therapeutisch wurde das Konzept „Vergebung heißt: die Quelle lässt sich nicht ändern“eingeführt – ein Schritt zur inneren Freiheit.


Neue Beziehung, alte Muster

Lena ist heute in einer liebevollen Partnerschaft – doch selbst hier sucht sie nach Fehlern.

„Er ist mir zu nett. Ich such nach etwas, das mich stört – obwohl er perfekt zu mir ist.“

Solche Reaktionen sind typisch nach emotionalem Missbrauch. Sobald es sicher wird, wird das Misstrauen laut: „Darf ich glücklich sein?“ Sie beginnt zu sabotieren, nicht aus Bosheit – sondern aus Angst, sich wieder zu verlieren.


Therapeutische Einordnung: Kontrolle als Trauma-Reaktion

Psychologisch lässt sich Lenas Verhalten als posttraumatische Kontrollstrategie einordnen. Nach Erfahrungen von Gewalt und Machtlosigkeit versucht sie, Ordnung im Außen zu schaffen – weil das Innere chaotisch bleibt.

Typische Merkmale:

  • Hoher Anspruch an sich selbst

  • Emotionale Schuld, besonders als Mutter

  • Unfähigkeit zur Entspannung

  • Bedürfnis nach „Wiedergutmachung“ – auch über Leistung


Mikrotherapeutische Interventionen

Während der Sitzungen kamen konkrete therapeutische Methoden zum Einsatz:

  • „Heißer Stuhl“ (Gestalttherapie): Abreaktion von Wut im geschützten Rahmen („im Auto laut schimpfen“ wurde als Ressource erkannt).

  • Ego-State-Arbeit: Innere Anteile wie „die strenge Mutter“, „das verletzte Kind“ oder „die Getriebene“ wurden benannt und validiert.

  • Psychoedukation: Erklärung, wie Trauma Kontrollzwang verstärken kann („Kontrolle sichert nur kurzfristig – langfristig macht sie unfrei“).

  • Selbstmitgefühlstraining: Aufbau eines liebevolleren Umgangs mit Fehlern im Alltag.

  • Arbeit mit dem inneren Kind: Besonders im Kontext von Mutterrolle und Bindungsverhalten.


Was Lena heute braucht: Erlaubnis zum Unperfektsein

Lena ist eine reflektierte, engagierte Mutter mit hoher Selbstverantwortung. Doch was ihr fehlt, ist Selbstfreundlichkeit. Ihre größte Entwicklung wäre:

  • Nicht immer stark sein zu müssen

  • Fehler zuzulassen

  • Verletzlichkeit als Stärke zu begreifen

  • Sich selbst zu vergeben

„Ich will eigentlich nur mal einen Tag sagen können: Heute ist es halt nicht perfekt – und das ist okay.“

Diagnostische Einschätzung (ICD-10)

  • F43.1: Posttraumatische Belastungsstörung

  • Z63.5: Belastung durch Scheidung

  • Z62.8: Überfürsorgliches Elternverhalten

  • F32.0: Leichte depressive Episode

  • Z61.4: Störungen der primären Bindung


Ausblick: Vom Funktionieren zum Leben

Lena ist auf einem guten Weg – nicht, weil alles „besser“ wird, sondern weil sie beginnt, mit sich selbst ehrlicher zu werden. Sie lernt, dass emotionale Wunden Zeit brauchen. Und dass echte Stärke nicht bedeutet, alles zu schaffen – sondern sich helfen zu lassen, wenn man es nicht mehr kann.


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