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Echtheit, Beziehung und Resilienz

Der Gruppenprozess mit Marcel – eine Lehranalyse für angehende Lebensberater:innen


💬 Ein authentischer Gruppentag

In dieser Ausbildungsgruppe zur Lebens- und Sozialberatung brachte Marcel ein Thema ein, das zugleich alltäglich und existenziell war:Er hatte seine frühere Arbeit verloren – eine Aufgabe, die er über Jahre mit Hingabe aufgebaut und mit seiner Identität verknüpft hatte.

Sein Satz

„Ich war die Firma.“fasste alles zusammen:die Verschmelzung von Selbstwert und Funktion.

Jetzt, in der neuen Anstellung, fühlte er sich leer, überfordert, fehl am Platz.Er sprach von Stress, Orientierungslosigkeit und dem Gefühl, „keinen Boden zu haben“.

Schon in den ersten Minuten zeigte sich:Hier spricht kein „Fachthema“, sondern ein innerer Bruch –zwischen Loyalität und Freiheit, Pflicht und Selbstfürsorge.


🪞 Der Einstieg: Empathische Resonanz und Übersteuerung

Als Marcel begann, öffnete sich die Gruppe sofort.Man sah aufrichtige Anteilnahme.Die Körper lehnten sich nach vorne, der Blickkontakt war intensiv.

Doch schon nach drei Minuten war spürbar:Die Empathie kippte in Aktionismus.


Mikroprozessanalyse:

  • Tonfall in der Gruppe wird drängender („Vielleicht solltest du …“, „Ich hatte das auch …“).

  • Affektlage: von Resonanz → zu Übersteuerung.

  • Der Leiter atmet hörbar tief – er greift nicht ein.

  • In der Gruppe entsteht unbewusst eine Hilfsblase: viel Rat, wenig Beziehung.


Das ist ein klassischer Ausbildungsmoment.Wenn Empathie nicht bewusst gehalten wird, verwandelt sie sich in Rettung.Was als Mitgefühl beginnt, wird zu Kontrolle.


⚖️ Das Paradox der Leitung

Der Gruppenleiter – erfahren, personzentriert, bewusst zurückhaltend –entscheidet sich, nichts zu tun.

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Diese Nicht-Intervention war keine Passivität, sondern ein bewusster Versuch,die Selbstorganisation der Gruppe zu ermöglichen.

Doch was geschah?Die Teilnehmenden begannen, die Rolle des Leiters zu übernehmen –ohne es zu merken.Sie suchten Struktur durch Handlung, weil der emotionale Raum zu weit offen war.


Mikroprozessanalyse:

  • 10. Minute: Drei Teilnehmende reden gleichzeitig.

  • Minute: Marcel beginnt, seine Stimme zu senken.

  • Minute: Stille – kurz, unangenehm.

  • Leiter hält die Stille.

  • Affekt kippt: aus Ratlosigkeit entsteht Kontakt.


Erst als niemand mehr helfen konnte, entstand Beziehung.Das ist die Essenz des personzentrierten Prozesses:Beziehung wächst in der Leerstelle zwischen Kontrolle und Ohnmacht.


🧠 Beziehungsstruktur: Die Sonderbeziehung und ihre Bedeutung

Marcel kannte den Leiter bereits aus Einzeltherapiestunden.Er hatte Vertrauen, Nähe und gute Erfahrungen mit ihm gemacht.Die Gruppe wusste das – unausgesprochen.

Damit war von Anfang an eine implizite Triade vorhanden:Marcel ↔ Leiter ↔ Gruppe.

Das wirkte:Die Gruppe lehnte sich innerlich an den Leiter an – über Marcel.Marcel war die Brücke der Sicherheit.


Mikroprozessanalyse:

  • 20. Minute: Eine Teilnehmerin sagt:

    „Du wirkst so gefasst, Marcel.“→ Projektive Zuschreibung von Stärke.

  • Marcel antwortet defensiv:

    „Ich muss ja irgendwie funktionieren.“

  • Das Muss aktiviert seine Skriptstruktur.


Die Gruppe spürt die Diskrepanz,doch niemand benennt sie.Der Leiter bleibt ruhig, aufmerksam, lässt Raum.Er hält die Beziehung, statt sie zu erklären.

Das ist personzentrierte Leitung in Reinform:Kongruenz durch Präsenz, nicht durch Kommentar.


💎 Der Wendepunkt: Wenn Beziehung ausgesprochen wird

In der zweiten Hälfte des Gesprächs kommt der Wendepunkt:Marcel sagt von sich aus:

„Ich kenne den Leiter schon länger, ich habe bei ihm Einzelstunden gemacht – das war immer gut für mich.“

Ein Satz, der alles ändert.

In diesem Moment wird das Beziehungsdreieck transparent.Das, was bisher unbewusst strukturierte, wird bewusst geteilt.


Mikroprozessanalyse:

  • Nach dem Satz: kurze Stille, dann Nicken in der Gruppe.

  • Emotionale Dichte nimmt ab, Wärme nimmt zu.

  • Leiter reagiert mit einem ruhigen „Danke, dass du das sagst.“

  • Atmosphäre: entlastet, geklärt, menschlich.

Diese Selbstoffenbarung hatte eine regulierende Wirkung.Die Gruppe musste das Unausgesprochene nicht länger halten.Das Feld konnte sich neu ordnen.

Marcel wirkte danach offener, entspannter, lebendiger.Er lachte, beteiligte sich aktiv an den weiteren Themen des Tages.Ein Zeichen für Integration nach emotionaler Entladung.


🔄 Dynamik des Skripts: „Ich werde gebraucht, also existiere ich“

Aus der Sicht der Redecision-Therapie (Goulding & Goulding)zeigt sich hier eine klassische Skriptstruktur:

Ebene

Beschreibung

Zitat/Indiz

Grundgebot

„Sei stark!“

Keine Krankheit, kein Stillstand.

Antreiber

„Mach’s recht!“

„Ich habe geschaut, dass alles passt.“

Sekundäres Skript

„Ich werde gebraucht, also existiere ich.“

Vollständige Identifikation mit Arbeit.

Der Konflikt:Marcel kämpft gegen seine Erschöpfung,weil „Schwäche“ sein Selbstbild bedroht.

Seine neue Arbeit – unklar, chaotisch, emotional leer –spiegelt genau das Thema: Selbstwert ohne Leistung.


🌀 Das Resilienz-Thema: Von Kontrolle zu Vertrauen

Resilienz zeigte sich in dieser Gruppe nicht als Stärke,sondern als Fähigkeit, in Verbindung zu bleiben, während es unklar ist.

Am Vormittag herrschte Chaos, Rat, Spannung.Am Nachmittag – nach dem Moment der Transparenz –herrschte Ruhe, Vertrauen, Humor.

Die Gruppe lernte:Man muss Unsicherheit nicht lösen, um sie zu überstehen.Man kann sie gemeinsam halten.

Das ist die tiefste Form von Resilienz.Nicht Härte, sondern Beziehungsfähigkeit.


🧩 Leitung und Struktur: Danielas Frage

Daniela stellte später eine zentrale Ausbildungsfrage:

„Wie kann man Struktur halten, ohne sie vorzugeben?“

Die Antwort liegt in diesem Prozess:Struktur entsteht nicht durch Inhalt, sondern durch Haltung.

Die Leitung hielt den Rahmen (Zeit, Raum, Aufmerksamkeit),ließ aber den Prozess sich selbst finden.Sie gab keinen Auftrag, keine Lösung,aber sie blieb – präsent, ruhig, authentisch.

So entsteht metastrukturelle Sicherheit:Die Gruppe spürt, dass jemand „da ist“,ohne dass jemand „führt“.


🔍 Mikroprozess: Leitungskompetenz in der Personzentrierung

Beobachtung

Intervention

Wirkung

Gruppe wird unruhig, Helferimpulse entstehen

Leiter bleibt ruhig, atmet, nimmt wahr

Gruppe reguliert sich selbst

Unsicherheit über Beziehung zu Marcel

Leiter benennt nichts, bleibt empathisch präsent

Beziehung wird später von Marcel selbst thematisiert

Emotionale Offenheit nach Klärung

Leiter bestätigt still durch Präsenz

Gruppe stabilisiert sich, Resilienz wächst

Diese Haltung ist kein „Nichtstun“ –es ist aktives Halten des Feldes,wie Rogers es nannte: „presence as a condition of change“.


🌱 Lernpunkte für die Ausbildungsgruppe

  1. Echtheit ist heilsamer als Struktur.Wer echt ist, ordnet das Feld durch Sein.

  2. Empathie braucht Bewusstheit.Sonst kippt sie in Aktionismus.

  3. Transparenz heilt Spannungen.Was ausgesprochen wird, verliert Macht.

  4. Resilienz bedeutet, Unsicherheit gemeinsam zu halten.Beziehung ist das stärkste Nervensystem.

  5. Leitung geschieht durch innere Ordnung.Struktur entsteht nicht aus Konzept, sondern aus Kongruenz.


✨ Fazit

Dieser Tag mit Marcel war kein „idealer“ Gruppenprozess –aber ein wahrhaftiger.Er zeigte, wie leicht Helfen zum Widerstand wird,wie Beziehung heilt, wenn sie ausgesprochen wird,und wie Resilienz entsteht,wenn Menschen sich im Chaos nicht verlieren.

Für die Ausbildung bleibt er ein Lehrbeispiel:für Mut zur Leere,für Vertrauen in Beziehung,und für die Kunst, Struktur nicht zu machen – sondern zu sein.


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Ein Lehrbeispiel aus der personzentrierten Berater-Ausbildung: Der Gruppenprozess mit Marcel zeigt, wie Echtheit, Beziehung und Resilienz miteinander verwoben sind – und wie Leitung ohne Kontrolle tiefe Lernprozesse ermöglicht.

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