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„Ich trage alles auf meinen Schultern“ – Wenn das Funktionieren zur Falle wird

Einblicke in ein psychotherapeutisches Erstgespräch

Anonymisiert für Ausbildungszwecke


🪜 Ausgangslage

Die Klientin, Mitte 50, kommt in psychischer Erschöpfung in die Praxis. Der erste Eindruck zeigt eine Frau, die äußerlich gefasst wirkt, im Gespräch jedoch schnell in eine Mischung aus Überforderung, Ohnmacht und innerer Leere kippt. Bereits zu Beginn des Gesprächs fallen Sätze wie:

„Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll.“„Ich funktioniere einfach nur.“„Ich war immer die, die stark war.“

🧩 Biografischer Hintergrund (stark verdichtet)

  • Frühe Kindheit geprägt durch Gewalt, emotionale Vernachlässigung, Alkoholismus der Mutter, massive Überforderungen durch die Pflege eines schwerbehinderten Bruders.

  • Zwei Suizidversuche (14 & 39 Jahre).

  • Chronisch hohe Leistungsanforderungen im Beruf (Hauskrankenpflege) bei gleichzeitig familiärer Überlastung (Sohn lebt zuhause, Ehemann abhängig von täglichem Fahrdienst).

  • Mehrjährige Abstinenz nach Alkoholabhängigkeit in Selbstreflexion begonnen.


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🧠 Diagnostische Orientierung: F-Diagnose oder Z-Diagnose?

Die Lebensrealität der Klientin bewegt sich zwischen den ICD-10 Diagnose-Kategorien:

  • F32.1 – Mittelgradige depressive Episode:Anhaltende Antriebslosigkeit, Schlaflosigkeit, Zukunftsangst, Schuldgefühle, sozialer Rückzug, Suizidgedanken in der Vorgeschichte.

  • Z73.0 – Burnout/Probleme mit Bezug auf Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung:Aktuelle Überforderungssituation ohne klar psychotische Symptome, funktionales Alltagsverhalten noch aufrechterhalten, aber grenzwertig erschöpft.


👉 Lebens- und Sozialberater:innen dürfen keine F-Diagnosen stellen. Dennoch ist es essenziell, diese zu verstehenund in der Abgrenzung zur Z-Kodierung richtig einzuordnen. In der Praxis ist hier eine gute Zusammenarbeit mit Fachärzt:innen/Psychotherapeut:innen sinnvoll.


🔬 Mikrovorgänge & therapeutische Schlüsselprozesse

Im Gespräch zeigen sich mehrere hochrelevante Mikroprozesse, die für angehende Berater:innen gut beobachtbar und therapeutisch nutzbar sind:


🎭 1. Der Moment des Kontrollverlusts

„Ich habe das Buch über das innere Kind am Nachtkastl – aber ich trau mich nicht weiterzulesen.“

➡️ Deutung: Ambivalenz zwischen Erkenntniswunsch und Angst vor Überflutung. Ein Klassiker in biografisch belasteten Klientensystemen.


🌀 2. Gedankenkreisen als Schutz- und Stresssymptom

„Ich lieg im Bett und sag mir: Denk nicht dran – und genau dann denk ich dran.“

➡️ Intervention: Einführung von Fokusübungen oder strukturierter Achtsamkeit (Neurographik, progressive Muskelentspannung, kreative Aufgaben mit taktiler Regulation).


🧍‍♀️ 3. Parentifizierung & Verantwortungsdiffusion

„Ich hab für meine Mutter mit 18 einen Kredit aufgenommen. Für ihre Wohnung.“

➡️ Deutung: Muster frühkindlicher Verantwortung bleibt im Erwachsenenleben aktiv → trägt zur systemischen Erschöpfung bei.


🧠 4. Re-Traumatisierung durch Arbeitsalltag

„Ich kann nicht abschalten, ich nehm die Geschichten meiner Patienten mit heim.“

➡️ Beratungsziel: Förderung von Psychohygiene, emotionaler Distanzierungskompetenz, Entwicklung eines „inneren Feierabends“.


🧰 Tools für die Praxis

  • Ressourcenaktivierung: Einstieg mit einfachen, positiv konnotierten Tätigkeiten (z. B. Malen nach Zahlen, Spaziergänge, Musik, häkeln).

  • „Mini-Ziele“ definieren: z. B. „10 Minuten täglich nur für mich.“

  • Systemische Fragetechnik: „Was passiert, wenn Sie heute zum ersten Mal Nein sagen würden?“

  • Körperbasierte Regulation: progressive Muskelentspannung, Atemübungen, Visualisierung des inneren sicheren Ortes.


🌱 Fazit & Impuls für die Ausbildung

Viele Klient:innen, die nach außen funktionieren, tragen eine jahrzehntelange Überlebensleistung in sich. Als Berater:innen ist es entscheidend, nicht vorschnell zu motivieren („Gehens mal Radfahren“), sondern den inneren Schmerz als wertvolles biografisches Signal anzuerkennen.


🎯 „Statt die Maske des Funktionierens zu stärken, helfen wir, sie achtsam abzulegen.“



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