Pursuer–Withdrawer-Dynamik
- Thomas Laggner

- vor 10 Stunden
- 6 Min. Lesezeit
in der Emotionally Focused Therapy (EFT):
Ein umfassendes Lehr- und Hintergrundpaper für Therapie, Beratung und Ausbildung
Die Pursuer–Withdrawer-Dynamik gehört zu den am häufigsten vorkommenden interaktionellen Mustern in Paarbeziehungen, und sie ist – unabhängig von Alter, Bildungsgrad, sozialem Hintergrund oder kulturellen Faktoren – in nahezu allen emotional belasteten Partnerschaften sichtbar.
In der Emotionally Focused Therapy (EFT) nach Sue Johnson gilt sie als eines der zentralen Modelle zur Erklärung reaktiver Bindungsprozesse, die insbesondere unter Stress, Konflikt und emotionaler Aktivierung auftreten. Dieses Modell ist wirkungsvoll, weil es die Verhaltensebene, die Paare im Alltag wahrnehmen, präzise mit den darunterliegenden neurobiologischen, bindungstheoretischen und intrapsychischen Vorgängen verknüpft. Es löst starre Zuschreibungen wie
„Du bist zu laut“,
„Du bist zu kalt“ oder
„Du willst immer nur Ruhe“
auf und zeigt stattdessen, dass beide Partner einem hochsensiblen Austausch von Nähe, Distanz, Sicherheit und Bedrohung folgen, der oft seit der Kindheit und Jugend geprägt ist und in der aktuellen Beziehung unbewusst abgerufen wird.
Indem wir diese Dynamik verständlich machen, schaffen wir für Paare Voraussetzungen für Veränderung: nicht durch Appelle, nicht durch Willenskraft, sondern durch das Wiederherstellen emotionaler Sicherheit. Damit erfüllt die EFT die von Rogers definierte Aufgabe jeder therapeutischen Beziehung, nämlich „eine Atmosphäre zu schaffen, in der die natürliche Aktualisierungstendenz des Menschen wieder wirksam werden kann“.
Die Pursuer–Withdrawer-Dynamik ist somit kein pathologisches Muster, sondern ein Schutzprogramm zweier Nervensysteme, das erst dann destruktiv wird, wenn es chronifiziert und nicht mehr bewusst regulierbar ist.
1. Der Pursuer: Die Bewegung nach vorne als Versuch der Bindungssicherung
Der Pursuer ist innerhalb der Dyade jener Partner, der bei Distanz, Rückzug oder Schweigen sofort in einen aktivierenden Zustand geht. Er sucht Nähe, Kontakt, Austausch und vor allem Resonanz. Sein Verhalten wirkt häufig drängend, übererklärend, kritisch oder emotional überwältigend – aus seiner Perspektive jedoch ist es ein zutiefst logischer Versuch, eine als bedroht erlebte Bindung aktiv zu reparieren.
1.1 Psychologische Grundlogik des Pursuers
Der Pursuer reagiert auf Stress mit Aktivierung.Das autonome Nervensystem schaltet in eine Sympathikusdominanz: der Körper bereitet sich darauf vor, „etwas zu tun“.Nähe wird zum Mittel, die Angst vor Verlust zu regulieren.
Sein Organismus interpretiert Distanz als Gefahr.Der innere Satz lautet oft unbewusst:
„Wenn ich nicht sofort Nähe herstelle, verliere ich dich – und dann verliere ich den emotionalen Boden unter den Füßen.“
Dieser Mechanismus hat tiefe entwicklungspsychologische Wurzeln. Kinder, die unsichere oder inkonsistente Bindungsmuster erlebten, entwickelten häufig Strategien, durch Nähe, Ausdruck oder Protestkontakt die Verbindung zu wichtigen Bezugspersonen zu sichern. Dieses Muster bleibt im Erwachsenenalter aktiv und wird in Partnerschaften hochsensibel getriggert.
1.2 Typische Verhaltensmerkmale
– Drängen, Reden, Überkommunizieren– detailliertes Erklären des Problems– lautes Sprechen, emotionale Intensität– schnelles Interpretieren und Reagieren– verstärkte Körperspannung– starkes Bedürfnis nach Rückversicherung– Tendenz zu Vorwürfen aus Schmerz
Wichtig: Pursuer sind nicht „zu viel“, „zu laut“ oder „zu emotional“.Sie versuchen, Kontakt zu sichern, weil Kontakt Sicherheit bedeutet.
1.3 Innere Gefühlslage
Unter dem protestierenden Verhalten liegen:
– Angst, verlassen zu werden– frühe Erfahrungen emotionaler Unsicherheit– das Empfinden, „nicht wichtig“ oder „nicht gehalten“ zu werden– die Sorge, dass der andere innerlich davongleitet
Der Pursuer empfindet den Rückzug des Partners oft als Bestätigung seiner schlimmsten Befürchtungen. Deshalb intensiviert er seine Bemühungen – ein klassischer Teufelskreis.

2. Der Withdrawer: Der Rückzug als Schutz vor Überflutung
Der Withdrawer ist der Partner, der auf emotionale Intensität, Konflikte oder Kritik mit Distanz reagiert. Sein Nervensystem schaltet nicht in Aktivierung, sondern in Dämpfung – ein parasympathischer Shutdown. Rückzug ist keine Gleichgültigkeit, sondern ein Versuch, emotional zu überleben.
2.1 Psychologische Grundlogik des Withdrawers
Der Withdrawer schützt sich vor Überforderung.Emotionale Wucht wird vom Körper als Bedrohung interpretiert.
Typisch sind Gedanken wie:
„Ich kann das nicht lösen. Ich muss mich zurückziehen, sonst eskaliert es noch mehr.“
Viele Withdrawer lernten in ihrer Kindheit, dass Konflikte gefährlich sind oder Gefühle keinen Raum haben dürfen. Andere wurden dafür belohnt, „ruhig und vernünftig“ zu bleiben. Wieder andere haben schlicht ein Nervensystem, das starke Emotionen kaum regulieren kann und deshalb Schutz durch Rückzug sucht.
2.2 Typische Verhaltensmerkmale
– Schweigen oder in sich hineinhorchen– körperliches Abwenden– Blickkontakt vermeiden– rationalisieren oder „auf Fakten umschalten“– das Gefühl, überrannt zu werden– innere Leere oder Erstarrung– scheinbare Ruhe bei innerem Alarm
Withdrawer wirken oft wie „der Vernünftige“ oder „der Ruhige“.Tatsächlich sind sie häufig jene, die am stärksten überfordert sind.
2.3 Innere Gefühlslage
Unter dem Rückzug liegen:
– Scham („Ich mache das falsch.“)– Angst vor Angriff oder Kritik– das Gefühl, emotional zu versagen– Erleben der eigenen Unzulänglichkeit– Überforderung und Stress
Viele Withdrawer würden Nähe suchen – wenn sie sich sicher fühlen würden.Aber in Momenten hoher Aktivierung erscheint Rückzug als einzige Option.
3. Warum beide sich gegenseitig in die Eskalation treiben
Die Pursuer–Withdrawer-Dynamik ist ein wechselseitiges Schutzsystem, das außer Kontrolle geraten ist.Keiner beginnt.Beide verstärken einander.
3.1 Der Kreislauf
Pursuer spürt Distanz→ aktiviert Nähebedürfnis
Withdrawer fühlt Intensität→ Rückzug
Pursuer interpretiert Rückzug als Abwertung→ verstärkte emotionale Aktivierung
Withdrawer erlebt diese Aktivierung als Angriff→ weiterer Rückzug oder Erstarrung
Beide fühlen sich allein, unverstanden und verletzt
3.2 Die neuropsychologische Grundlage
Beim Pursuer:– starke Aktivierung des Bindungssystems– Cortisolanstieg– Drang zu handeln und Kontakt herzustellen– erhöhte Amygdala-Reaktivität
Beim Withdrawer:– Überflutung des Nervensystems– vagale Shutdown-Reaktion– kognitive Blockade– körperliche Erstarrung
Beide sind in einem Zustand reduziertem mentalisierenden Denkens, was bedeutet:Sie können die Perspektive des anderen kaum mehr halten.
4. Die primären Emotionen unter der Oberfläche
In der EFT unterscheiden wir zwischen strategischen Verhaltensmustern (Protest, Rückzug) und primären Emotionen (Angst, Sehnsucht, Scham). Beide Partner zeigen Strategien – aber sie fühlen Bedürfnisse.
4.1 Beim Pursuer
Unter Protest, Vorwürfen und Drängen liegen:
– Angst vor Verlust– Schmerz über Distanz– Sehnsucht nach Berührung– die Frage: „Bist du noch bei mir?“
Pursuer wirken laut – aber ihre Lautstärke ist oft ein Hilferuf.
4.2 Beim Withdrawer
Unter Schweigen, Logik oder Erstarrung liegen:
– Scham– das Gefühl, nicht zu genügen– Angst vor Eskalation– Hilflosigkeit– innerer Wunsch nach Frieden
Withdrawer wirken ruhig – aber ihre Ruhe ist oft eine Notfallstrategie.
5. Der vollständige Zyklus aus EFT-Sicht
Die EFT benennt vier Schritte der Eskalation:
Trigger– ein Satz, ein Blick, ein Schweigen
Sekundäres Verhalten– Pursuer: Druck– Withdrawer: Rückzug
Primäre Emotionen– Pursuer: Angst– Withdrawer: Scham, Überforderung
Bindungsbedürfnisse– Pursuer: „Sieh mich, bleib bei mir.“– Withdrawer: „Überfordere mich nicht, halte mich, ohne dass ich Fehler machen muss.“
Dieser Zyklus lässt Paare über Jahre in emotionaler Distanz gefangen bleiben, selbst wenn sie einander lieben.
6. Warum Paare in der Dynamik stecken bleiben
6.1 Fehlinterpretationen
Pursuer denkt:„Du liebst mich nicht genug.“
Withdrawer denkt:„Ich kann es dir nie recht machen.“
Beide fühlen sich innerlich allein.
6.2 Bindungstraumatische Prägungen
Unsichere Bindungsmuster aus der Kindheit werden aktiviert.Der Körper erinnert sich an alte Strategien.Das Nervensystem verhält sich, als ginge es um Leben oder Tod.
6.3 Systemische Verstärkung
Die Muster passen häufig perfekt zusammen:
– Der eine drückt → der andere weicht– Der eine weicht → der andere drückt stärker
Das System stabilisiert sich selbst.
7. Wie EFT – und du als Therapeut – diese Dynamik auflöst
Die EFT arbeitet nicht primär an Verhalten, sondern an emotionaler Sicherheit.Wir verändern also nicht, was Partner tun, sondern warum sie es tun.
7.1 Schritt 1: Verlangsamung
Der Therapeut stoppt den Kreislauf.Wir schaffen ein Feld, in dem beide atmen, spüren und denken können.Wir reduzieren Reaktivität und erhöhen Bewusstheit.
7.2 Schritt 2: Herunterregeln auf Primäremotionen
Wir helfen beiden, den Zugang von sekundären zu primären Emotionen zu finden:
Von„Du hörst nicht zu!“zu„Ich fühle mich allein und habe Angst, dich zu verlieren.“
Von„Ich habe keine Lust zu reden!“zu„Ich spüre, dass ich Angst habe, dich zu enttäuschen, und weiß nicht, wie ich dir sagen soll, was gerade in mir los ist.“
7.3 Schritt 3: Validieren und Reprozessieren
Beide erleben:
– der Partner hat Gründe– der Partner schützt sich– der Partner möchte Beziehung– der Partner leidet ebenfalls
Das verändert die innere Logik.
7.4 Schritt 4: Neue Reaktionswege üben
Pursuer lernt:
– weniger Druck– mehr Selbstoffenbarung– ruhigeres Tempo
Withdrawer lernt:
– sich mitteilen, bevor der Shutdown kommt– kleine Schritte Richtung Kontakt– die eigene Angst aussprechen
7.5 Schritt 5: Bindungsbotschaften
Authentische „Attachment Injunctions“ werden möglich:
– „Ich bin bei dir.“– „Ich fürchte manchmal, dir nicht zu genügen.“– „Ich will, dass wir ein Team sind.“– „Ich brauche Nähe.“
Diese Momente haben tiefgreifende neurobiologische Wirkung.
8. Warum dieses Modell so wertvoll ist – für Paartherapie, Ausbildung & Prävention
8.1 Es entlastet beide Partner
Der Pursuer erkennt:„Ich bin nicht zu intensiv – ich beschütze meine Bindung.“
Der Withdrawer erkennt:„Ich bin nicht gefühllos – ich beschütze mich vor Überforderung.“
8.2 Es ersetzt Schuld durch Verständlichkeit
Paare denken nicht mehr in Kategorien wie „immer“ oder „nie“.Sie sehen ein Muster – und das Muster ist veränderbar.
8.3 Es baut Brücken zwischen Systemik, Bindungstheorie und Personzentriertheit
Der personzentrierte Ansatz (Rogers) spricht von inneren Prozessen, die unter Bedingungen von Empathie und Kongruenz wieder zur Selbstorganisation finden. Die EFT verbindet diese humanistische Haltung mit einem präzisen Modell der emotionalen Interaktion zweier Nervensysteme. Systemische Ansätze ergänzen dies, indem sie den Kreislauf als zirkuläre Dynamik begreifen, nicht als individueller Fehler.
8.4 Es bietet Hoffnung – durch Struktur
Paare erkennen, dass sie weder inkompatibel noch beschädigt sind.Sie verstehen, warum sie reagieren.Sie sehen, was sie ändern können.Sie erleben, dass Sicherheit möglich ist.
Schlussbild
Pursuer und Withdrawer sind keine Gegensätze.Sie sind zwei Arten, mit Angst umzugehen.Zwei Arten, Bindung zu schützen.Zwei Arten, die Liebe zu bewahren.
Wenn wir das sichtbar machen, entsteht ein Raum, in dem Beziehung wieder wachsen kann – langsam, achtsam, mutig, Schritt für Schritt, getragen von der Erkenntnis:
„Wir kämpfen nicht gegeneinander. Wir kämpfen für uns – nur auf unterschiedliche Weise.“



